Man kennt sie aus der Fußgängerzone, dort stehen sie mit ihren Wachturm-Zeitschriften. Oder sie klingeln an der Haustür und wollen über die Bibel sprechen. Die Rede ist von den Zeugen Jehovas. Entstanden ist die Glaubensgemeinschaft vor über einhundert Jahren in den USA, weltweit hat sie über acht Millionen Mitglieder. Allein 170.000 davon leben in Deutschland. Sekten-Expert*innen werfen der Organisation totalitäre Strukturen vor, denn sie verlangt absoluten Gehorsam von ihren Mitgliedern. Kritische Fragen oder Bedenken blockt sie konsequent ab.
Ein Gott, der Ungläubige vernichtet
Diese Erfahrung hat auch Frank gemacht. Er wurde in die Gemeinschaft hineingeboren. „Meine Großeltern sind in den 1960er-Jahren den Zeugen Jehovas beigetreten. Meine Eltern haben sich dann in der Gemeinschaft kennengelernt“, erzählt der 35-Jährige. So wächst auch er innerhalb der Sekte auf, wird schon früh mit der Idee konfrontiert, dass irgendwann ein Gott kommt, der alles vernichtet.
Zentraler Glaubensbestandteil der Zeugen Jehovas ist Harmagedon, das unmittelbar bevorstehende Ende der Welt, das nur die Zeugen Jehovas überleben werden. Schon für die Jüngsten gibt es Bücher zu diesem Thema. „Da wird mit sehr eindrucksvollen Bildern gearbeitet, die einschüchtern sollen. Schon kleinsten Kindern wird eingetrichtert, dass die Welt aus Ungläubigen besteht, die einen vom Glauben abbringen wollen“, erklärt Frank. Als Kind fühlt er sich deshalb oft als Außenseiter, zumal Feste wie Weihnachten und Ostern bei den Zeugen Jehovas nicht gefeiert werden, ebensowenig Geburtstage.
Missionieren war ihm unangenehm
Von klein auf ist Frank bei den Missionstätigkeiten seiner Glaubensgemeinschaft an der Haustür mit dabei. Als Teenager dann in Zweier-Teams mit Gleichaltrigen. „Mir ist das nie leichtgefallen, es war mir total unangenehm. Aber es gehört zum Alltag bei den Zeugen dazu und wird streng kontrolliert“, erinnert sich Frank. An vielen Türen stoßen sie auf Desinteresse, wenn sie eingelassen werden, dann meist von älteren Menschen, die sich über zwei Gegenüber zum Reden freuen …
Frank heiratet mit 20 Jahren, seine Frau hat er bei den Zeugen Jehovas kennengelernt. Die früh geschlossene Ehe ist auch der strengen Moralvorstellung der Gemeinde geschuldet, die Sex vor der Ehe verbietet. Und weil der Kodex dauerhafte Ehen vorsieht, kommt es zum Eklat, als die Bindung nicht hält und Frank einige Jahre später seine Jugendliebe aus der Ausbildungszeit wieder trifft. Als seine Familie erfährt, dass er sich von seiner Frau scheiden lässt, bricht sie den Kontakt zu Frank ab. „Damals bestand mein Umfeld zu 99 Prozent aus Zeugen. Auch die meisten Freunde waren Mitglieder, weshalb ich von jetzt auf nachher überhaupt keine sozialen Kontakte mehr hatte.“ Wer bei den Zeugen Jehovas gegen die Regeln der Gemeinschaft verstößt, wird knallhart geächtet.
Wer gegen die Regeln verstößt, wird verstoßen
Diese Situation nimmt Frank stark mit, er ist nun ein Ausgestoßener und von einer Sekunde auf die andere seines sozialen Lebens beraubt. Zwar ist er jetzt glücklich liiert und hat auch über seine Arbeit als Chemielaborant Kontakt zu einigen Kollegen. Dennoch sind seine von Kindheit an erlernten Überzeugungen noch so stark in ihm präsent, dass er bald von einem schlechten Gewissen geplagt wird. „Ich konnte mich zu der Zeit gedanklich noch nicht von der Gemeinschaft lösen. Vielmehr fühlte ich mich als Sünder und glaubte, dass die Zeugen die Wahrheit predigen und ich als Abtrünniger sterbe, wenn das Ende der Welt kommt“, so Frank.
Reumütig kehrt er zunächst zurück
Er hält dem inneren Druck nicht stand, reicht nach zwei Jahren als „Outlaw“ ein Reuegesuch ein, um wieder bei den Zeugen Jehovas aufgenommen zu werden. Seine Freundin lässt ihn machen, obwohl sie selbst mit Religion im Allgemeinen nichts zu tun hat und speziell von den Zeugen Jehovas nichts hält, wie sie Frank auch oft genug in Diskussionen wissen lässt. Als die beiden schließlich heiraten, akzeptiert die Glaubensgemeinschaft seine Beziehung zu einer „Ungläubigen“.
Doch Franks Mitgliedschaft bei den Zeugen Johovas bleibt auch im zweiten Anlauf kompliziert. Zwar hat er jetzt wieder mehr soziale Kontakte, vor allem auch zu seiner Familie. Er geht zu den Gottesdiensten im Königreichssaal in Karlsruhe und später in Ettlingen, doch zunehmend plagt ihn eine innere Unruhe. Vielleicht, weil er insgeheim spürt, dass das Leben mit den Zeugen Jehovas nicht mit der Welt außerhalb zu vereinen ist. Mit Mitte Zwanzig geht es ihm psychisch zunehmend schlecht, er fängt an, sich selbst zu verletzten, ritzt sich mit scharfen Gegenstände in die Arme. „Das selbstschädigende Verhalten ging so weit, dass ich irgendwann auch nicht mehr leben wollte. 2015 wurde ich dann in eine psychiatrische Klinik eingewiesen“, erzählt Frank.
Innerer Konflikt bringt ihn in die Klinik
Die Zeit im Krankenhaus verschafft ihm für mehrere Monate Abstand zu seinem zwiegespaltenen Alltag. Zum ersten Mal hat er vor Ärzt*innen, Pflegepersonal und anderen Patienten das Gefühl, dass er ganz er selbst sein kann. Mit keinem Wort erwähnt er allerdings, dass er den Zeugen Jehovas angehört. Dazu hatten ihm Vertraute aus der Gemeinde geraten, da aus ihrer Sicht alle Menschen außerhalb ihrer Reihen von Satan manipuliert sind, um die Zeugen Jehovas vom Glauben abzubringen. Eine Pflegekraft in der Klinik durchschaut Frank und sagt am Tag seiner Entlassung: „Sie verschweigen uns etwas – und das, was sie verschweigen, ist Ihr wahres Problem!“ Diesen Satz nimmt er mit nach Hause.
„Konnte zum ersten Mal ich selbst sein“
Nach dem Klinikaufenthalt fühlt er sich bei Zusammenkünften der Zeugen Jehovas zunehmend unwohler. Egal, ob er bei seinen Eltern zu Besuch ist oder mit Freunden unterwegs – vor anderen Mitgliedern der Gemeinde hat er das Gefühl, eine Rolle spielen zu müssen, um ihnen zu gefallen. „Mir fiel stärker als früher auf, wie mit Druck und Schuldgefühlen gearbeitet wird. Ich hatte in der Klinik über Wochen eng mit anderen Patienten zusammengelebt und mich teils auch angefreundet. Deshalb fragte ich mich jetzt umso mehr, warum sie im Weltbild der Zeugen Johovas als Ungläubige vernichtet werden sollen, obwohl es doch gute Menschen sind.“
Frank besorgt sich Bücher von Aussteiger*innen wie Sophie Jones und Oliver Wolschke. In deren Geschichten erkennt er sein eigenes Leben wieder. „Als ich von den psychologischen Tricks las, mit denen bei den Zeugen gearbeitet wird, oder von der Erkenntnis, dass man im Notfall sein Kind sterben lassen muss, weil Bluttransfusionen verboten sind, hat es bei mir Klick gemacht“, sagt Frank. Er versucht, mit seiner Familie darüber zu diskutieren, doch die tut seine Erkenntnisse als Hirngespinste ab.
Er ringt sich zum Austritt durch
Irgendwann steht sein Entschluss dennoch fest und er schreibt einen Austrittsbrief an die Gemeinde. „Zu dem Zeitpunkt hatte ich mich mit einigen Arbeitskollegen angefreundet, war also zum Glück nicht komplett isoliert, als die Zeugen mich wieder ausschlossen.“ Frank sucht persönlichen Kontakt zu anderen Sekten-Aussteiger*innen, mit denen er sich austauscht. Zudem hilft ihm ein Psychologe dabei, seine Vergangenheit zu verarbeiten.
Inzwischen ist er in seinem neuen Leben angekommen, hat mit seiner zweiten Frau zwei Kinder bekommen und ein Haus südlich von Karlsruhe gekauft. Sein kleiner Freundeskreis ist ihm Ersatz für die verlorene Glaubensgemeinschaft, er angagiert sich bei der Freiwilligen Feuerwehr. „Dort helfe ich Menschen ich wirklich, anstatt ihnen nur vom Paradies zu erzählen“, resümiert der Aussteiger. Auch mit einer seiner beiden Schwestern trifft er sich regelmäßig – er ist nicht der Einzige aus seiner Kern-Familie, der die Zeugen Jehovas verlassen hat …
Für weitere Infos über die Zeugen Jehovas, Lebensberichte von Aussteiger*innen, Gerichtsurteile in diesem Zusammenhang und Hilfe für Betroffene empfiehlt Frank den Verein JZ Help, dem er auch selbst angehört.
1 Kommentar zu 1 Zeugen Jehovas: ein Karlsruher Aussteiger berichtet