Bei der Eröffnung rückt Direktorin Prof. Dr. Pia Müller-Tamm noch schnell eine Anzeigetafel zurecht, spricht mit ihrem Pressechef über eine Formulierung an der Wand. Die neue Ausstellung Systemrelevant ist in nur sechs Wochen entstanden, mit ihr reagiert die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe spontan auf die Auswirkungen der Corona-Krise.
Ausstellung zu Krisen
Im klimatisierten Galerie-Trakt hängen die Kunstwerke in weiten Abständen – von der christlichen Ikone bis zur Gegenwartsmalerei. Alle handeln von Krisen, persönlichen oder gesellschaftlichen: Max Beckmanns „Die Nacht“ zeigt eine arme Familie, der nach Erstem Weltkrieg und Spanischer Grippe das Elend ins Gesicht geschrieben steht. Bildhauerin Leiku Ikemura malt in Folge der Fukushima-Katastrophe ein für ihr Werk untypisches Aquarell einer gequälten Frauen-Mine.
Auch viele ältere Darstellungen sind zu sehen, Adams und Evas Vertreibung aus dem Paradies (um 1450) oder eine dramatische Schifffahrtsszene von Aernout Smit aus dem 17. Jahrhundert etwa. Auch verschiedene Plastiken, Radierungen und Collagen transportieren Angst, Leid oder Verzweiflung. Mit dieser historischen Spur vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart wolle man zeigen, dass die aktuelle Pandemie nicht die erste Krise ist, sagt Kuratorin Dr. Leonie Beiersdorf.
Menschen kommen zu Wort
Was von Corona einmal in Erinnerung bleiben wird, könnte die Diskussion um den Begriff „Systemrelevant“ sein, der häufig für Berufe in Gesundheit, Pflege oder Versorgung benutzt wurde. Das Wort impliziere, dass andere Bereiche nicht systemrelevant sind, finden die Macher der Karlsruher Ausstellung. Deshalb baten sie unterschiedlichste Menschen um ihre Meinung – die Statements bilden den zweiten Teil der Schau.
Warum eine Aufwertung von Fürsorge-Berufen Gewinner und Verlierer zu produzieren müsse, fragt Filmproduzent Ümit Uludag. Substage-Bookerin Fabienne Stocker meint: „Systemrelevant. Für welches System? Das System Mensch? Das System Gesellschaft? Das System soziale Marktwirtschaft? Das ökologische System? Eignet sich systemimmanentes Denken zur Gestaltung unserer Zukunft?“ Soziologe Harald Welzer stellt klipp und klar fest: „Kunst ist in der Krise nicht systemrelevant.“
Systemrelevanz in Frage stellen
Die insgesamt 30 Statements sind auf große Papierbahnen gedruckt und wie beiläufig mit Malerkrepp an die Wand geklebt. Zwischen ihnen und den anderen Exponaten stehen graffittiartig Begriffe wie „Haltung“, „Würde“ und „Überleben“ gemalt, die wie Störer wirken.
„Für uns war es wichtig, nicht am Rand zu stehen und zu warten, bis es weitergeht. Wir senden mit dieser Sonder-Ausstellung einen Zwischenruf aus dem Museum“, erklärt Museumsdirektorin Müller-Tamm. Das Kriterium „systemrelevant“ wird in Frage gestellt, weil es zu einer Spaltung führen kann. Und weil Relevantes und scheinbar Irrelevantes oft nah beieinander liegen …
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